Mittwoch, 28. November 2012

Demokratie ist ...

"Bei der Forderung nach Demokratie geht es im Grunde nicht um humanistische, religiöse, wirtschaftliche oder ethische Argumente. Es wäre sogar ganz falsch das zu behaupten. Vielmehr gibt es ein Komplexitätsargument. Verfassungen, Menschenrechte usw. sind politische Kalküle, die die Menschen für sich entdeckt haben um mehr Möglichkeiten in der Gesellschaft für die Gesellschaft zu erzeugen. Man mag das moralisch bewerten oder nicht, aber es ergibt einfach Sinn." (Respekt und Demokratie)

Demokratie ist nicht etwas, das man aus moralischen Wellnessbedürfnissen heraus haben wollen sollte. Wenn es keine andere, verstandesmäßige Grundlage für unser Streben nach Demokratie gäbe als das es "wertvoll" ist, dann, so liegt der Verdacht nahe, könnte das ein Problem sein.

Es ist doch so: Von Anfang an bestimmt jede Gruppe von Menschen selbst verantwortlich von wem sie sich etwas sagen lässt. Wie weit sie das zum Problem macht, dabei Organisationsfähigkeiten entwickelt und welche Möglichkeitsräume sie dabei gewinnt und verliert könnte man als Maß der Selbstreflexion der Gesellschaft betrachten.

Wenn Demokratie aber selbst als ein Wert und nicht als Funktion verstanden wird, dann könnte man auf die Idee kommen, dass, in einer Demokratie lebend, man sich auf einem höheren Wertenivau bewegt und sich eigentlich auch weniger Sorgen machen müsste.
Wenn vorne das Schild "Demokratie" hochgehalten wird und dazu immer "Werte vor, noch ein Tor" gerufen wird, das lenkt sogar den Blick von der Funktion der Demokratie weg, die da wäre: komplexe gesellschaftliche Differenzierungsfähigkeit zu ermöglichen. Die Möglichkeiten der Gesellschaft über sich selbst zu disponieren steigen in demokratischen Gesellschaften. Das kann man erstmal ganz wertfrei lesen.

Als Folge der Überbewertung rhetorischer Figuren, die die Fundierung der Demokratie auf Werte festlegen, nach dem Motto wir haben Demokratie, weil das für unser Karma irgendwie besser ist, kann man eine seltsam neurotische Reaktion in der Gesellschaft beobachten. Viele scheinen sich nämlich in den quasi polemischen Rhetoriken von Politikern zu verfangen und äussern gar froh zu sein das trotz Demokratie etwas differenziertes funktioniert, und dass zur Not auch mal ein paar echte Werte fka Grundrechte geopfert werden können (Astsägen).

Das mag damit zusammenhängen, dass die politische Rhetorik der jeweiligen Regierungsparteien ihr Scheitern natürlich nicht sich selbst zuschreibt und auch dem Wähler keine Vorwürfe macht, sondern Unvorteilhaftes schnell mal mit "Hach, die gute alte Demokratie" oder "diese gemeine Bürokratie" rechtfertigt. Mit fatalen Konsequenzen wie ich finde, weil das einfache Gemüter durchaus anfällig für sehr undemokratische Ideenabgründe machen kann. Die sie dann anfangen lassen an dem Ast zu sägen auf dem sie sitzen und dabei noch zu denken, dass sie ihren Stand sichern.
Es wird dann nicht gesehen, dass die Gesellschaft sich mit einem demokratischen Modell überhaupt erst zusätzliche Möglichkeiten schafft, die sie dann selbst wieder reduziert, sondern - den Polemiken von Rhetorikern folgend - wird eine wahrgenommene Reduzierung der Möglichkeiten oft der Demokratie, der Bürokratie oder den Verfahren und nicht den Parteien oder dem Souverän selbst zugeschrieben. Das stellt aber die Tatsachen auf den Kopf.

Demokratie ist im Prinzip nur die Bedingungen der Möglichkeit von komplexen Differenzierungen der Gesellschaft. Ein moderater Moralist würde vielleicht sagen: Voraussetzung für mehr Möglichkeiten zum Guten, und mehr Möglichkeiten zum Schlechten. Ein Funktionalist würde wohl sagen: Der Raum möglicher Zustände, der Phasenraum, der Raum für Entscheidungen in der Gesellschaft gewinnt Möglichkeiten; So oder so: Das Medium in dem wir gesellschaftlich gestalten, Formen einziehen, Formen wieder abreissen und Ganzes für den einzelnen mitgestaltbar machen, das lässt differenziertere, dem einzelnen mehr Freiheit lassende (im Sinne von mehr Auswahl aus) Möglichkeiten für Formen zu; wenn sich eine Gesellschaft demokratisch organisiert.

Demokratie ist ein Medium für komplexe soziale Formen, nicht selbst eine soziale Form (höchstens als Begriff, als sprachliches, semantisches Phönomen, aber nicht im Sinne einer "Formation"). Demokratie entlässt den Bürger nicht ins selige Paradies (nicht mal ein bischn), sondern im Gegenteil, sie fordert ihn mehr denn je und immer mehr sich gefälligst differenziert zu orientieren. Weil der Bürger nicht nur Möglichkeiten auf Vorteile gewinnt, sondern (letztlich abhängig von seinem Verstehen und seiner Organisationfähigkeit) in gleichem Maße immer auch Möglichkeiten übervorteilt zu werden dazubekommt..

Jemand der die Demokratie nicht als Bedingung der Möglichkeit von gesellschaftlicher Differenzierung versteht, sondern selbst als differenzierte Form begreift, der wird sie eher als schmückendes Beiwerk der Differenzierung von Entscheidungsmöglichkeiten in der Gesellschaft wahrnehmen, nicht als Voraussetzung dieser. Demokratie greift aber in ihrer rechtsstaatlich fundierten Funktion als eine Art Prisma für politische Entscheidungen eine Ebene tiefer. Um es kurz zu sagen: ein verfahrensmäßig diffiziler Zusammenhang als Rechtstaat erweitert in einer Demokratie das Auflösevermögen für Entscheidungen, weil er sich selbst dazu verpflichtet unvoreingenommen gegenüber dem Souverän zu sein und damit letztlich seine Sensibilität für Einbringungen des Souveräns erhöht.

Andersrum: Der demokratische Rechtsstaat sorgt durch die Sensibilität hin zum Souverän für eine Legitimation, der - durch die Steigerung der Möglichkeiten schärferen - Auswahlkante des politischen. Durch die Steigerung der Möglichkeiten muss schliesslich mehr unberücksichtigt bleiben. Und um diese voraussetzungsreicheren Auswahlmöglichkeiten sinnvoll kontrollieren und legitimieren zu können, bedarf es heute mehr denn je die Beteilung von Vielen in der Politik und einer offeneneren, verfahrensmäßig transparenten Art und Weise dieser Politik Entscheidungen nachvollziehbar zu machen.
Wenn das nicht passiert, also keine verbesserte Transparenz für Verfahren und deren Entscheidungen eingeführt wird, dann bleibt in dem Maße auch das Risiko vorhanden, dass Leute, teilweise Politiker selbst, sich in ihren eigenen Floskeln verfangen und schließlich (mind aus Parteidisziplin heraus) irgendwann selbst glauben, dass nicht Sie es sind, dass nicht der Souverän es ist der die Möglichkeiten reduziert, die die Demokratie schafft, sondern, am besten umgekehrt denken, dass die Demokratie es ist, die Möglichkeiten reduziert und die Politiker es sind, die den Auswahlbereich schöpfen, aus dem die Demokratie dann auswählt. Das ist politische Hybris, nichts anderes..

Wer mit dieser Zuschreibungsrichtung unterwegs ist, der wird wenig gut dagegen gefeit sein, besten Gewissens (aber eben nicht Wissens), sich von sehr undemokratischen Entscheidungen -ironischerweise auch noch - im Namen der Demokratie überzeugen zu lassen. Irrtüner die den Bürger am eigenen Ast sägen lassen, im Glauben ihn zu festigen, derer gibt es zu Hauf. (Ein wirtschaftspolitisches Beispiel solcher, durch die öffentliche Meinung gestützte Astsägereien war für mich folgendes. Wer sich erinnert, wie die ganzen Bürgerkleinaktionäre damals um die Jahrtausendwende auf einmal alle klangen wie die Presseabteilung von Börsenkonzernen... Das war für mich ein anderes Beispiel wie viele Bürger mit "ihrer" Meinung an dem Ast gesägt haben auf dem sie saßen. Gestützt durch die sachlich paralysierte öffentliche Meinung und deren Nachhall sind in der Folge damals auch offensichtlich diese ganzen unsäglichen Finanzgesetze der damaligen Regierung (die uns heute f*****) ohne gross Zucken durchgegangen).

Die Aussage "wir leben in einer Demokratie" sollte uns also nicht beruhigen (und damit irgendwie poitisch stillegen), sondern eher optimistisch, auf jeden Fall aber konzentriert stimmen. Es gibt Grund zu der Annahme, dass wir als Bürger immer gleich beunruhigt und motiviert für politisches Engagement sein sollten.

Man muss sich nur klarmachen, dass selbst Diktatoren (zumindest mit einem IQ über 80) heute kein Interesse mehr an Despotismus haben. Demokratien bieten einfach mehr Möglichkeiten, für alle (und ggf. sogar noch mehr für diejenigen, die sich wirtschaftlich/juristisch besonders gut selbst vertreten können, um das mal vorsichtig zu formulieren).

Demokratie ist kein Selbstzweck, der sich auf Werte beziehen kann. Noch entstehen in einer Demokratie die Werte automatisch (so wenig wie es in der Evolution immer nur in Richtung "höher" differenzierten Strukturen geht). Die grundlegenden Verfahren, die eine Demokratie ermöglichen, sind nicht gut oder schlecht. Auch macht es wenig Sinn eine Demokratie zu wollen, um sich damit gegen das Böse zu schützen. Das erzeugt falsche, bzw. unterkomplexe Erwartungen und erschwert oder verunmöglicht dadurch demokratische Entscheidungen, die auf differenziertes Verstehen, eigeninitiatives Lernen und nicht auf blosse Wertbekundungen angewiesen sind und bleiben. Demokratie schützt nicht vor irgendwas. Im Gegenteil, sie bedroht unseren Status quo mit unfassbaren Entwicklungsmöglichkeiten.( G+)